
Der Besuch
Wild wogte die See gegen die scharfen Felsen der Klippen. Bleiern und schwer trieben die Wolken träge heran und kündeten von einem weiteren Unwetter. Der Wind brachte die Äste der großen Eiche, die sich in der kargen Erde am oberen Rand der Klippen festkrallte, zum Ächzen und es klang fast, wie das Stöhnen eines alten Mannes. Kalter, salziger Wind ließ das blonde Haar im Wind flattern und zerrte an den Kleidern der jungen Frau, die mit weit ausgebreiteten Armen am Rande der Klippe stand. Nur ein einziger Schritt trennte sie von dem tödlichen Fall in die schäumende Brandung unter ihr.
In ihr herrschte eine tiefe Ruhe, die durch kein Gefühl und keinen Gedanken gestört wurde. Nur das leichte Kratzen ihrer Gabe und den Wind, der an ihr riss und sie zurückzudrängen suchte, nahm sie wahr. Die Blätter des Baumes rauschten neben ihr und die Äste knarrten leise in der steifen Brise, die über das Meer kam. Die Möwen waren verstummt und nur gelegentlich drang das Klappern eines nicht festsitzenden Fensterrahmens an ihr Ohr. In der Luft lag der schwere Geruch nach Regen und Salz, eine Mischung, die ihr überaus vertraut war und die sie an ihre frühe Kindheit erinnerte.
Cécile öffnete langsam ihre Augen, die die Farbe des aufgewühlten Meeres tief unter ihr angenommen hatten. Ihr Blick glitt über die tiefhängenden, fast schwarzen Wolken am Horizont. Dann wandte sie sich der Gestalt zu, die völlig lautlos an sie herangetreten war und deren Gegenwart sie mehr intuitiv spürte, als sie sie über ihre Sinne wahrnahm. Weniger als eine Armeslänge von ihr entfernt war der Neuankömmling stehen geblieben.
Der Mann mit den eiskalten, schwarzen Augen stand dort und begutachtete sie. Er wirkte anziehend, jedoch nur solange sie ihn lediglich von weitem sah. Er hatte kurzes, pechschwarzes Haar, ein angenehmes, maskulines Gesicht mit heller Haut und ausdrucksstarken Gesichtszügen. Dazu trug er ein blütenweißes Hemd und schwarze Hosen sowie Schuhe. So sah er jedesmal aus, wenn er zu ihr kam und wie immer, wenn sie ihm begegnete, stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Dies geschah nun seit fünf langen Jahren, in denen sie quasi nichts über den Mann erfahren hatte, der alle paar Wochen kam, um sie nach ihrer Gabe zu befragen. Doch diesmal war sein letzter Besuch schon acht Monate her und in dieser Nacht hatte sie ihn auch das erste Mal anders gesehen. In dieser Nacht war sein Hemd nicht mehr blütenweiß gewesen, sondern rot vom Blut eines Mannes, den er getötet hatte. Ein Frösteln überlief sie und sie schlang die Arme um den Körper, plötzlich war ihr kalt und seine Gegenwart behagte ihr noch weniger als sonst.
„Wie lange stehst du schon so da?“, brach Cécile nach einiger Zeit das Schweigen, das ihr unangenehm zu werden begann.
Langsam glitt sein Blick von ihrem Gesicht hinab, über das beigefarbene Shirt, die abgeschnittene Jeans, ihre geraden, nackten Beine bis hinunter zu ihren bloßen Füßen. Unruhig verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. In seinem Gesicht regte sich nicht und dann blickte der Mannes wieder auf und sah ihr in die Augen. „Hast du Angst vor mir?“ Seine Stimme war leise, aber trotzdem klar zu verstehen.
Sofort tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Blut auf dem weißen Hemd, die eine Hand hielt das aus dem Körper gerissene Herz des Angreifers, der leblos zusammensackte. Eilig schüttelte Cécile den Kopf und vertrieb so die schrecklichen Bilder dieser grauenvollen Nacht. Um nichts in der Welt würde sie zugeben, dass er eine unbestimmte, aber dennoch starke Angst ihn ihr auslöste, dies hatte sie noch nie und Cécile hatte sich vorgenommen, es dabei zu belassen. Mit Hilfe eines Haargummis, welches sie aus der Tasche ihrer Jeans holte, band sie sich die Haare zusammen, die der Wind ihr immer wieder ins Gesicht trieb, dann straffte sie sich und schaute ihm fest in die Augen, bemühte sich, seinen durchdringenden Blick standzuhalten, während sie sich erkundigte: „Gibt es denn einen Grund dafür?“ Leicht kribbelte die Furcht in ihrem Nacken und ihr wurde deutlich bewusst, dass direkt hinter ihr ein Sturz in den Tod auf sie lauerte. Obwohl der Mann ihr in dieser Nacht wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, sorgten die Erinnerungen dafür, dass sie seine Gegenwart als noch anstrengender empfand, als jemals zuvor.
„Viele“, war die schlichte, kalte Antwort, die Cécile schlucken ließ. Unmöglich war es ihr zu sagen, ob er dies ernst meinte oder sie nur auf den Arm nahm. Von fern rollte der Donner heran. Ein Vorbote des Unwetters, welches bald über diesen Ort hinweg rollen würde. Ein großer, eiskalter Tropfen klatschte auf ihren Kopf und sie fuhr vor Schreck zusammen.
Einen Moment blickte sie dem Mann zumindest ins Gesicht, vermied es aber, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Es wird hier draußen gleich ungemütlich, wir sollten reingehen.“ Bei diesen Worten klang ihre Stimme bei weitem nicht so fest, wie sie sich das gewünscht hätte. Der Mann rührte sich nicht. Es kostete sie einigen Mut, so nah an ihm vorbeizugehen, dass ihr Arm den Stoff seines Hemdes streifte. Sie spürte die Wärme auf ihrer Haut. Er roch nach Zedernholz und Weihrauch, kein unangenehmer Geruch, exotisch und ein wenig mysteriös, genau wie der Mann, von dem er ausging. Eilig bewegte sie sich auf das große, unheimliche Gemäuer zu, in dem sie seit einigen Monaten lebte und das ihr nie zuvor so fremd und leer vorgekommen war. Die kleine Burg war direkt auf der Klippe erbaut worden und umgeben von einer dicken und hohen Mauer, bei der sich Cécile schon in jungen Jahren immer wieder gefragt hatte, ob diese jemanden draußen oder etwas drinnen hielt. Die Festung stand hier seit einigen Jahrhunderten und hatte, wie sie von ihrem Großvater wusste, eine sehr bewegte Vergangenheit. Wieder einmal fragte sie sich, wieso sie hierher zurückgekommen gekommen war, und wandte ihren Blick erst kurz nach hinten, als sie die Tür erreicht hatte. Sie ließ den Mann ein, der ihr gefolgt war und schloss die Tür genau in dem Moment, wo der Himmel seine Schleusen öffnete. Cécile atmete auf und griff nach dem Handtuch, das in Griffweite der Tür gelegen hatte und ihr von dem Fremden gereicht wurde. Schnell wischte sie sich ihre nackten Füße halbwegs trocken, dann steckte sie diese in ein paar rote Badeschuhe. Das Handtuch ließ sie an der Tür zurück.
Nur kurz schielte sie zu ihrem Begleiter hinüber, der sie beobachtete, dann lenkte sie ihre Schritte durch die düstere Eingangshalle, in der zwei einsame Ritterrüstungen Wache hielten. An den Wänden hingen Gobelins, die vor allem Jagdszenen zeigten. Nichts Besonderes, wenn man einmal davon absah, dass dort nicht auf Hirsche oder Wildschweine Jagd gemacht wurde, sondern auf Werwölfe, Vampire und anderes erwachtes Zeug. Wie ein dunkler Schatten folgte der Mann ihr. Die Treppe hinauf, einige Gänge entlang, vorbei an vielen Türen und schließlich hinein in ein kleines, gemütliches Zimmer mit einem Kamin, in dem ein Feuerchen loderte. Cécile schaltete das elektrische Licht nicht ein, sondern setzte sich in einen der Sessel, der direkt vor dem flackernden Kamin stand. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, tat es der Mann ihr gleich.
„Es war eine bescheuerte Idee hier her zu kommen.“ Cécile rieb sich über die Arme, da sie immer noch leicht fröstelte, war sich aber nicht sicher, ob diese Reaktion durch die Kälte oder den Mann ausgelöst wurde. Jetzt wo ihr Großvater nicht mehr hier war, kam ihr dieser Ort unheimlich und trostlos vor. Ganz anders, als sie ihn in Erinnerung hatte. Es kostete sie einige Überwindung, dem Mann in die dunklen Augen zu sehen, denen nichts zu entgehen schien.
„Warum?“ Er hatte den Kopf schräg gelegt und seine Stimme hatte einen etwas anderen Klang, als sonst. Diese einfache Frage erstaunte Cécile ungemein, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass er etwas sagen würde. Bis zum heutigen Tag hatte er keine Fragen beantwortet oder gestellt, die nicht im direkten Zusammenhang mit ihrer Gabe gestanden hatten. Er hatte ihr nicht einmal seinen Namen genannt bisher.
„Hier wimmelt es nur so vor Geheimnissen und Dingen, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob es gut wäre, sie zu entdecken. Ich fürchte, dass ich mir hier mehr Ärger einfangen werde, als ich bewältigen kann.“ Sie dachte kurz an den Angriff zurück, der ihrem Großvater das Leben gekostet hatte und den sie nur überlebt hatte, weil der merkwürdige Fremde plötzlich aufgetaucht war, sie gerettet hatte und dann ohne ein weiteres Wort wieder verschwunden war. Für sie stand es außer Frage, dass der Grund für den Überfall eines dieser Geheimnisse war.
„Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen.“ Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken und sie war sich absolut nicht sicher, ob das eine Drohung oder ein Versprechen war. Die Vorstellung, dass dieser mysteriöse Erwachte ab sofort häufiger in ihrer Nähe sein würde, gerade nachdem sie gesehen hatte, zu was er im Stande war, behagte ihr überhaupt nicht. Natürlich hatte sie darüber nachgedacht, mit welcher Art von erwachtem Wesen sie es hier zu tun haben könnte, doch letztendlich waren alle Möglichkeiten, die ihr eingefallen waren, bestenfalls als äußerst gefährlich einzustufen.
Zwar hatte sie sich vorgenommen ihre offenen Fragen, bei seinem nächsten Besuch, zu stellen, doch ob das ein guter Plan war, daran zweifelte sie mittlerweile doch ziemlich. Trotz des unguten Gefühls setzte sie sich ein wenig auf und erkundigte sich: „Es macht dir unheimlichen Spaß, Dinge so auszudrücken, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen, oder?“ Leicht schüttelte sie den Kopf und rang sich dazu durch direkt noch zwei Fragen nachzulegen. „Und wo wir schon dabei sind, wieso bist du wieder da? Warum erst jetzt, nach über acht Monaten?“ Bei diesen Worten hatte sich ihr Herzschlag beschleunigt, obwohl sie nicht sicher war, weshalb eigentlich.
Erneut legte er seinen Kopf ein wenig schräg, runzelte kaum sichtbar die Stirn und sah sie an. Sie dachte nicht daran, klein bei zu geben, und stand auf, um einige Scheite ins Feuer zu werfen. In ihrem Leben hatte sie lernen müssen, sich auch Dingen zu stellen, vor denen sie Angst hatte und dies kam ihr nun zu Gute. Cécile wurde das Gefühl nicht los, dass sie in Teufels Küche käme, wenn sie dem Mann nicht zumindest versuchen würde Paroli zu bieten. Als sie die Holzstücke mit einem Schürhaken ein wenig besser positioniert hatte, hängte sie diesen an einen Haken und setzte sich wieder in den Sessel. Die ganze Zeit über hatte sie seinen Blick auf sich gespürt und als sie sich nun wieder Zwang ihn anzusehen, hatte er offensichtlich nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
„Was hast du gesehen, seit ich das letzte mal hier war?“ Mit diesen Worten überging er die gestellten Fragen auf genau dieselbe Art und Weise, wie er es immer tat. Er ignorierte sie schlicht und ergreifend. Unter normalen Umständen hätte Cécile nachgegeben und ihm gesagt, was er wissen wollte, heute allerdings, würde sie es ihm nicht so leicht machen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie ein gefährliches Spiel mit dem Feuer spielte, doch ein anderer Teil riet ihr, genau das zu tun, wenn sie wollte, dass er aufhörte sie herum zu schubsen und zu ignorieren. So lehnte sie sich im Sessel zurück und fixierte den offenen Knopf seines Hemdes.
Endlose Minuten verstrichen, in denen sich nichts rührte und nur das Knacken des Holzes die Stille durchbrach. Dann bewegte sich der Mann, legte den Kopf ein wenig schräg und zog erneut eine Augenbraue hoch. „Nein. Diese Reaktion ist nicht beabsichtigt.“ Seine Stimme klang ruhig und angenehm und doch schien eine Art Widerstand in ihr mitzuschwingen, als koste es ihn etwas Überwindung das auszusprechen.
Cécile gelang es nicht ihre Überraschung darüber, dass sie überhaupt eine Antwort erhalten hatte, zu verbergen. Sie schaute ihm ins Gesicht und beantwortete dann auch seine Frage: „In den letzten Monaten war meine Gabe relativ ruhig. Der Apepkult hat einige Amulette rausgeschickt, aber sonst war nicht viel los.“ Es viel ihr schwer nicht daran zu denken, dass die Menschen, die diese Schmuckstücke erhalten hatten, entweder bereits tot waren oder es zumindest in naher Zukunft sein würden. „Ich finde es wäre an der Zeit, dass du mir endlich mal deinen Namen verrätst.“
Es war offensichtlich, dass ihm weder die Frage noch der Tonfall sonderlich gefielen und Cécile war sich nicht sicher, ob sie nicht soeben einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte. Ihre Fingernägel gruben sich in das Polster des Sessels, während sie versuchte, seinem Blick standzuhalten. In ihrem Kopf kratze ihre Gabe an den Wänden ihres Verstandes und begehrte Einlass. Kurz kniff sie die Augen zusammen, um sie etwas hinauszuzögern. Um nichts in der Welt wollte sie jetzt eine Vision haben. Es gelang ihr tatsächlich, ihre Gabe ein wenig von sich zu schieben, und so wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Gegenüber zu. Er hatte sich etwas nach vorne gelehnt und musterte sie so intensiv, dass sie instinktiv nach hinten auswich. „Deine Gabe regt sich wieder“, stellte er interessiert wirkend fest.
Dieses plötzliche Interesse gefiel Cécile nicht sonderlich, aber sie nickte. „Ja. Ich spüre schon seit einigen Tagen, dass da etwas kommt.“
„Aber du wehrst dich.“ Keine Frage, nur eine Feststellung. Wieder legte er den Kopf etwas auf die Seite, ganz so als begutachtete er ein interessantes Kunstwerk. Es wirkte, als ob er über irgendetwas nachdachte. Bestätigen tat sie seine Annahme mit einem angedeuteten Kopfnicken, war aber nicht bereit das näher zu erläutern. Er richtete sich wieder etwas auf und sagte dann: „Lucien.“ Für einen Moment war sie verwirrt, dann begriff sie, dass das die Antwort auf ihre Frage gewesen war. „Wieso lässt du sie nicht zu?“
„Weil ich nicht so extrem scharf auf die Visionen bin. Ich will sie nicht haben.“ Zwar kam sie sich bei diesen Worten vor, wie ein kleines, bockiges Kind, doch es war die Wahrheit.
„Warum?“
„Das musst du Fragen?“ Irgendetwas Dunkles funkelte in seinen Augen und Cécile lenkte sofort ein. „Die Dinge, die ich sehe, sind nicht angenehm. Das müsstest du doch wissen. Niemand kennt so viele von meinen Visionen, wie du. Es ist nicht schön das zu sehen.“ Ein Blitz erhellte den Raum und der Donner folgte so schnell und so laut, dass Cécile heftig zusammenzuckte.
Lucien hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Es wirkte beinahe so, als denke er über irgendetwas intensiv nach, dann schließlich hatte er offensichtlich eine Entscheidung getroffen. Mit einer Selbstverständlichkeit, die sie sprachlos machte, verkündete er: „Ich werde hier bleiben.“
„Wie bitte?“ Der jungen Frau waren alle Gesichtszüge entglitten und irgendwie rechnete sie damit, dass er nur einen eigenartigen Sinn für Humor hatte, doch in seinem Gesicht war keine Spur von Belustigung oder sonst einem Gefühl zu erkennen, das auf einen Spaß hinweisen würde. „Das ist ´nen Scherz, oder?“ Die Unsicherheit war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
Es dauerte wieder einen Moment, in dem Lucien sie nur aus unergründlichen Augen musterte, bevor er richtigstellte: „Ich mache keine Scherze.“ Dabei klang seine Stimme so ernst, als wäre schon die Idee allein absurd. Céciles Nackenhaare stellten sich noch ein wenig mehr auf. Diese absolute Arroganz, mit der er offenbar davon ausging, dass sich das Thema damit erledigt habe, ließ sie wütend werden.
„Du kannst aber nicht einfach so entscheiden, hier zu bleiben“, bemühte sich Cécile, ihn in seine Schranken zu verweisen. Schon direkt nachdem sie das ausgesprochen hatte, bereute Cécile die Worte wieder. Denn Luciens Haltung veränderte sich auf eine schwer fassbare Art und Weise und es schien plötzlich eine unsichtbare aber doch sehr reale Gefahr in der Luft zu liegen.
„Und wer glaubst du, wird mich daran hindern? Du?“ Bei diesen Worten lag Spott und eine schier grenzenlose Arroganz in jeder Silbe. Cécile kam sich vor wie ein dummes, kleines Kind, das eine wahrhaft dämliche Frage gestellt hatte. Es schien fast so, als ob seine Augen dunkler geworden wären und ein weiterer Blitz tauchte das Zimmer in sein unheimliches Licht und ließ Lucien noch bedrohlicher wirken.
Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongerannt. Ihre Gabe kratzte schon wieder an ihrem Verstand und sie hatte Mühe ihre aufgebrachten Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig gab es hier aber einen deutlichen Klärungsbedarf und sie musste dringend Grenzen ziehen, an die auch er sich zu halten hatte, das war ihr klar, doch heute würde sie die Schlacht nicht mehr gewinnen können. „Wie lange willst du bleiben?“ Bei diesen Worten machte sie sich nicht einmal die Mühe zu verhehlen, dass sie von der Idee überhaupt nichts hielt.
„Bis ich genug habe.“ Rein sachliche Worte, die langsam und offenbar äußerst bedacht gewählt waren und Cécile dazu brachten, heftig die Zähne zusammenzubeißen um ihn nicht direkt anzufahren. Ein neuerliches Donnergrollen rollte über die Burg und sie spürte die Vibration, die dieses auslöste.
Die Flammen im Kamin prasselten ruhig vor sich hin und spendeten eine sanfte Wärme. Für einen Moment konzentrierte sich die junge Frau auf diese Empfindungen, bevor sie sich ihm erneut zuwandte. „Wir werden morgen über einige Dinge reden müssen, Lucien.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten erhob sie sich. „Komm mit, dann zeig ich dir, wo du schlafen kannst.“ Er kniff die Augen ein klein wenig zusammen und wirkte fast, als habe sie etwas Unerhörtes getan, doch überraschenderweise bewegte er sich. Geschmeidig wie eine Raubkatze und – ohne Frage – sicher mindestens genauso tödlich, stand er auf. Instinktiv vergrößerte sie den Abstand zu dem Mann ein wenig, atmete dann tief durch und machte sich dann mit einem unguten Gefühl auf den Weg.
Die einzigen Zimmer in der ganzen Burg, die soweit hergerichtet waren, dass man sie beziehen konnte, lagen im Burgenflur. So nannte sie diesen langen, einsamen Flur mit den vielen Türen und den Gemälden, die ausnahmslos andere Burgen zeigten und deren tieferer Sinn ihr bisher verborgen geblieben war. Eigentlich hätte sie ihn viel lieber am anderen Ende der Burg untergebracht, doch das war so, wie es dort derzeit aussah nicht möglich. Innerlich fluchte sie darüber. Vor einer großen Tür mit unzähligen Ornamenten hielt sie an und wandte sich dem Mann zu, der ihr, für ihren Geschmack viel zu dicht gefolgt war. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie unterdrückte den Wunsch zurückzutreten, um etwas mehr Abstand zu halten. Der Geruch nach Zedernholz und Weihrauch stieg ihr wieder in die Nase. „Hier“, murmelte sie kurz angebunden und deutete auf die Tür. Sein Blick ruhte auf ihr und für einen Moment regte sich keiner, doch dann nickte er langsam. „Gute Nacht.“ Mit diesen Worten wich sie zurück, fuhr auf dem Absatz herum und war mit einigen schnellen Schritten bei einer Tür, die nur ein Stück den Gang hinunter auf der anderen Seite lag. Als sie, bevor sie in das Zimmer dahinter verschwand, noch einmal zurückblickte, bemerkte sie, dass der Mann seine Hand auf die Türklinke gelegt hatte, ihr aber hinterher sah.
Schnell betrat sie in dem Raum hinter der Tür, schloss diese eilig und drehte den Schlüssel um. Sie lehnte sich kurz mit dem Rücken gegen die Tür und atmete tief durch. Das Zimmer war chaotisch, überall standen Kartons zwischen den antiken Möbeln, die sie bisher teilweise nicht einmal geöffnet hatte. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war hier herzukommen, doch es gab wahre Unmengen an Dingen, die sie noch klären musste. Sie hatte es ihrem Opa versprochen. Bei dem Gedanken an ihren Großvater lief ihr eine einsame Träne über das Gesicht. Dann gab sie sich innerlich einen Ruck, durchquerte das Zimmer und betrat das Bad, das sich hier anschloss. Schnell duschte sie und kehrte dann in einem blauen Schlafanzug in ihr Zimmer zurück, wo sie direkt das große Bett aus dunklem Holz mit den edlen Schnitzereien und dem dunkelblauen Baldachin ansteuerte. Die Trauer über den Verlust, den sie erlitten hatte, erfüllte sie. Zwar war sie mit ihm nicht immer einer Meinung und empfand seine Begeisterung für Geheimnisse und seine Tätigkeit als Wissenshüter manchmal als sehr belastend, doch sie hatte diesen Mann geliebt, der sie so viele Jahre großgezogen hatte.
Die Vision pochte immer deutlicher gegen die Mauer, die sie um ihren Geist gezogen hatte. Heute würde sie ihr nicht mehr entgehen und so kuschelte sie sich in ihr Kopfkissen und unter die Decke, bevor sie die Tür in ihrem Geist öffnete und ihre Gabe aktiv werden lies. Die Vision riss sie in die Tiefe, in einen sich immer schneller drehenden Strudel aus Gefühlen und Bildern, der erst nach einer Weile langsamer wurde und sie losließ.
Fortsetzung folgt…